Benzodiazepinsucht, Teil 2

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Medikamentensucht, Benzodiazepinsucht, Tablettensucht

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Warum machen Benzodiazepine abhängig?

Es gibt eine Vielzahl an Theorien zur Suchtentstehung (Medikamentensucht). Bei allen Erklärungsversuchen ist zu beachten, dass die Ursache oder die Ursachen von Suchtkrankheiten noch nicht eindeutig geklärt sind. Wahrscheinlich spielen viele Faktoren bei der Entstehung von Suchtkrankheiten und bei ihrer Auslösung eine Rolle. Man spricht von einem mulifaktoriellen Geschehen.

Jeder Mensch kann im Prinzip süchtig werden. Dennoch ist nicht jeder Mensch gleichermaßen suchtgefährdet. Ob und welche Sucht sich entwickelt, hängt von der Persönlichkeit des Einzelnen, dem Suchtmittel, dem familiären Umfeld und den sozialen Bedingungen ab. Auffällig ist das statistisch gehäufte Auftreten des Missbrauchs und der Abhängigkeit von Alkohol und anderen Substanzen wie z. B. Beruhigungsmitteln in "suchtbelasteten" Familien. Die Wahrscheinlichkeit von Kindern alkohol- und/oder medikamentenabhängiger Eltern eine Medikamentenabhängigkeit zu entwickeln ist höher als das Risiko familiär unbelasteter Kinder. Dennoch können aus einer höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit (Morbidität) bislang keine genetischen Ursachen abgeleitet werden.

Aus psychoanalytischer Sicht sind Suchterkrankungen grundsätzlich zurückzuführen auf

  • neurotische Störungen
  • Ich-Funktionsdefizite und strukturelle Mängel
  • Autoaggressionen

Neurotische Konflikte, die sich z. B. Angststörungen ausdrücken, können zumindest zeitweise Anlass für exzessiven Alkohol- und/oder Medikamentenabusus sein. Hintergrund ist in vielen Fällen die ungelebte ödipale Liebe und die nicht bewusst zugelassene Identifikation mit einem abhängigen Elternteil, meist der Vater. Eine chronische Abhängigkeit ist hier eher selten.

Wesentlich häufiger finden sich bei Abhängigen sogenannte Ich-schwache Persönlichkeiten. Hier ist durch mangelnde Bestätigung und Förderung des Kindes, gelegentlich auch das übermäßige Verwöhnen des Kindes, das Ich zur Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität nicht ausreichend entwickelt. Die Affekttoleranz ist gering und auch die Affektdifferenzierung ist defizitär. Gefühle drohen das schwache Ich dann leicht zu überwältigen. Dieser drohenden Dekompensation wird durch die Einnahme des Suchtmittel begegnet. Neben der geringen Affekttoleranz, sind auch die Frustrationstolerenz und die Fähigkeit zur Realitätsprüfung gering. Die Ich-Grenzen gegenüber dem eigenen emotionalen Erleben und den Forderungen der Außenwelt sind brüchig.

Bei der Entstehung von Suchtkrankheiten ist auch der Aspekt Autoaggression von Bedeutung. Dabei handelt es sich um Patienten, die auf eine Lebensgeschichte zurückschauen, die voll ist von Traumatisierungen und Unglücken, und zwar bis weit in die Kindheit. Oft wird vom Tod des Vaters oder der Mutter berichtet, von schlimmsten familiären Exzessen, einer Kette von Unfällen, Krankheiten, Suizidversuchen und natürlich auch Suchtmittelexzessen. Den Betroffenen fehlt buchstäblich die Erlaubnis zum Leben, d. h. es fehlen die guten verinnerlichten Objekte, die ein Leben erlauben. In moderner psychoanalytischer Terminologie spricht man von Störungen auf dem Boderline-Niveau. Die Autodestruktion mittels des Suchtmittels steht hier im Vordergrund, wobei es um die Destruktion der internalisierten bösen (Teil-) Objekte geht. Es handelt sich also um eine basale (präödipale) Störung der Identität, einen Mangel an Urvertrauen, die zu einer Störung des Selbsterhaltungstriebes und des Lebenswillen führen. Die ohnehin große Suizidgefährdung von Suchtkranken ist bei einer Therapie dieser Patienten besonders zu berücksichtigen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung von Suchterkrankungen und sehr häufig anzutreffen, sind die zuvor angesprochenen Ich-Funktionsdefizite, d. h. das Ich kann die Aufgaben zur Selbstbewahrung unter Beachtung der Realität nur unvollständig erfüllen. Bei Abhängigen werden diese Ich-Funktionsdefizite durch das Suchtmittel ausgeglichen. Alkohol, Medikamente, Drogen, . . . dienen als "heilender Ausgleich" in Situationen, in denen sich das Ich bedroht fühlt, wobei das Suchtmittel sowohl dämpfend als auch schützend wirkt. Im einzelnen handelt es sich bei solchen Situationen um (Schallehn und Vogelbruck, 1993):

  • einen Schutz gegen starke und bedrohliche Affektzustände (Angst, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht), wobei das Suchtmittel zugleich Hemmungen beseitigt und ein Ausreagieren ermöglicht
  • einen Schutz gegen drohende Hoffnungslosigkeit und Abhängigkeitswünsche (besonders bei depressiven Abhängigen)
  • einen Schutz gegen Angst bei Gefahr der Ich-Desintegration
  • die Möglichkeit mit Hilfe des Suchtmittels eine neurotische, psychotische oder sexuelle Symptomatik zu mildern

Das Suchtmittel nimmt also eine zentrale Regulierfunktion ein und hilft dem Abhängigen, sich selbst und seine Beziehungen zu organisieren. Derartige Ich-Funktionsdefizite gehen auf massive Störungen in der frühkindlichen Entwicklung zurück. Dabei sind aus psychoanalytischer Sicht die frühen Liebesobjekte und die entsprechenden Objektbeziehungen der ersten Lebensjahre entscheidend (basale Störung). Ich-Funktionsdefizite entstehen als Folge eines stark ambivalenten, mit Liebe und Hass besetzten Erlebens der frühen Liebesobjekte des Suchtkranken. Diese Ambivalenz kann sich bei einer mangelnden Versorgung und auch bei einer Überversorgung entwickeln. Frühes Liebesobjekt ist in der Regel die Mutter. Die internalisierte Ambivalenz von gleichzeitig bestehenden intensiven Gefühlen von Libido und Aggression verhindert den zur inneren Reifung und zur Autonomie erforderlichen Fusionsprozess von "guten" und "bösen" Teilobjekten (Objektbeziehungstheorie), so dass sich eine brüchige innere Struktur der Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickelt. Dadurch fehlt die Grundlage für die Bildung einer Selbst- und Objektkonstanz, die wiederum für die Entwicklung von positiven Selbstwertgefühlen und die Beziehung zu anderen Objekten fundamental ist. Dem Abhängigen fehlen demnach eine gesicherte Selbstkonstanz (Selbstwertgefühl) und eine ausreichende Objektkonstanz (Umgang mit den eigenen Emotionen und Konstanz emotionaler Beziehungen). Daher werden Objektbeziehungen häufig als überfordernd erlebt. Aufgrund des fehlenden Selbstwertgefühles fühlt sich der Abhängige bis zu einem gewissen Grade hilflos ausgeliefert. Das defizitäre Ich muss sowohl die Steuerung und Kontrolle dieser Repräsentanzen als auch die Regulation des vorhandenen Mangels übernehmen und ist dieser Aufgabe nur eingeschränkt gewachsen. Die Auseinandersetzung mit der Realität wird zunehmend schwieriger. Das Suchtmittel wird mehr und mehr zum "Regulator".

Es ist einleuchtend, wenn Abhängige rückblickend äußern: "Ich war bereits nach der ersten Einnahme des Suchtmittels (nach meinem ersten Glas Bier, nach der ersten Tablette …) abhängig." Der Betroffene "erkennt", die sein Ich "schützenden und organisierenden" Funktionen des Suchtmittels sehr oft sofort (Erstkontakt). Das Suchtmittel wird dann zunehmend in bedrohlichen Situationen und Beziehungen eingesetzt und dient als Werkzeug, den großen Wunsch nach Stabilisierung, Regulation und Schutz zu erfüllen, mit der Möglichkeit die illusionäre Vorstellung von einem narzisstischen Zustand des Wohlbefindens "einzustellen und aufrechtzuerhalten". Ein Alkohol-, Medikamenten- und/oder Drogenabusus ist daher aus psychoanalytischer Sicht als ein Symptom zu verstehen, das Ausdruck einer Persönlichkeitsentwicklung mit strukturellen Mängeln, Ich-Funktionsdefiziten und narzisstischer Problematik ist. Natürlich werden die Ich-Defizite durch die Einnahme des Suchtmittels nicht verringert oder Probleme gelöst. Ganz im Gegenteil, spätestens wenn im Übermaß auf das Suchtmittel zurückgegriffen wird, wenn z. B. exzessiv getrunken wird, werden die bereits bestehenden Minderwertigkeitsgefühle weiter vergrößert und Probleme verschärft. Der Betroffene wird in einem Teufelskreis immer unfähiger, seine Gefühle und Beziehungen zu bewältigen.

Wenn Abhängige eine Abstinenzentscheidung treffen und ein abstinentes Leben beginnen, geht es Ihnen als Folge der (noch vorhandenen) Ich-Defizite, einer Störung der Identität (basale Störungen) und/oder einer vorhandenen neurotischen Störung daher sehr häufig schlechter als zuvor. Sie leiden an Schlafstörungen, Angstzuständen, Depressionen oder unkontrollierbaren Zuständen von innerer Spannung und Aggressivität, entwickeln unterschiedliche körperliche Symptome (Konversion), geben im Extremfall alle sozialen Kontakte auf und werden suizidal.

Im Hinblick auf die Persönlichkeit des Einzelnen sind folgende Faktoren für die Entwicklung von Suchterkrankungen von Bedeutung: Selbstunsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle (Komplexe), chronische Langeweile und Hoffnungslosigkeit, Beeinflussbarkeit, Problemverdrängung, Kontaktstörungen und Geltungsdrang. Der Betroffene versucht, der Realität zu entfliehen und in eine Phantasiewelt zu entkommen. Er erhofft sich vom Alkohol/Medikamenten/Drogen eine höhere Leistungsfähigkeit, die Lösung seiner finanziellen Schwierigkeiten, Angst- und Schmerzfreiheit, Ruhe, Entspannung und Harmonie.

Aus der Sicht der Verhaltenstheorie wird Suchtverhalten erlernt. In der Biographie Süchtiger findet man relativ häufig gestörte Familienverhältnisse (s. o.). Oft sind Eltern oder Geschwister suchtkrank oder leiden unter anderen psychischen Erkrankungen. Diese Randbedingungen und die Wirkung des Suchtmittels führen dazu, dass Abhängigkeit geradezu erlernt wird. Am Beispiel des Konsums von Tranquilizern heißt das z. B.: Eine eher unsichere und ängstliche Person macht die Erfahrung, dass sie unter Einfluss des Beruhigungsmittels wesentlich gelöster ist und leichter in Kontakt mit anderen kommt. Sie lernt so, dass Medikamente eine (scheinbare) Hilfe und Lösung bei Kontaktproblemen sind.

Zu erwähnen sind auch die Bindekraft des Suchtmittels (Alkohol, Medikamente, Drogen) und die pharmakologischen Wirkungen auf biologische Vorgänge, die bei einer Abhängigkeitsentwicklung von Substanzen von Bedeutung sind.

Bei der Bindekraft handelt es sich um die psychogene Wirkung von Medikamenten auf ihre Konsumenten. Durch die Bindekraft werden bestimmte Konsumenten auf das Medikament/die Droge fixiert, denn sie erhoffen sich von den psychotropen Wirkungen der Substanz eine Erlebnisveränderung und soziale Vorteile, die der Konsum zumindest anfänglich vermittelt (DHS, 1991). Die Bindekraft wird zudem durch die gesellschaftliche Toleranz und die Akzeptanz der Umgebung sowie gesetzliche Bestimmungen und Vorgaben geprägt. Je erwünschter der psychische Effekt, je leichter die Beschaffbarkeit und je risikoärmer (gesundheitlich, rechtlich, sozial) der Konsum, um so stärker ist die Bindekraft und um so schlechter ist die Prognose.

Mit einer Medikamentenabhängigkeit ist insbesondere auch immer dann zu rechnen, wenn es infolge der pharmakologischen Wirkungen auf biologische Vorgänge zu einer Toleranzentwicklung und Entzugssymptomen kommt. Ursächliche psychische und soziale Mechanismen verlieren dann oft gegenüber der "Notwendigkeit" der Beseitigung von Entzugssymptomen an Bedeutung. So können z. B. ursächliche psychogene Angstzustände bei Absetzen von Benzodiazepinen erheblich verstärkt werden und der Betroffene erfährt eine Konditionierung zum Dauergebrauch.