Zwangsstörung

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Zwangsstörung, Zwangsneurose, Zwangshandlungen, Zwangsgedanken 

 

Einführung

Mit "Zwang" werden Gedanken, Vorstellungen und Handlungsimpulse bezeichnet, die sich einem Menschen (zwangsweise) aufdrängen, ohne unterdrückt werden zu können und obwohl diese Gedanken, Vorstellungen oder Handlungsimpulse von der betroffenen Person als unsinnig, unangemessen und als Beeinträchtigung empfunden werden. Wird dem Zwang nicht nachgegeben, tritt große Angst auf.

Zwangsimpulse können zu bestimmten Zwangshandlungen wie z. B. verschiedenen Kontrollzwängen oder Waschzwang führen. Aggressive Zwangsimpulse wie z. B. jemanden zu verletzen, zu verstümmeln oder zu töten werden praktisch nie ausgeführt bedeuten aber eine starke Beunruhigung und Belastung für die Betroffenen.

Auch gesunde Menschen zeigen Verhaltensweisen, die denen in Zwangsstörungen ähneln. So kennt bestimmt jeder von sich den Augenblick, in dem er das Haus verlässt und sich fragt, ob der Herd tatsächlich ausgeschaltet ist. Dieser Gedanke lässt einem, obwohl man eigentlich weiß, dass man den Herd immer ausmacht, keine Ruhe, so dass man vorsichtshalber dann doch in der Küche nachschaut. Im Unterschied zu diesem Verhalten wird jedoch bei Zwangskranken der gesamte Alltag von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen beeinträchtigt. Dies kann soweit gehen, dass der größte Teil des Tages mit Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen ausgefüllt ist.

Vorkommen

Es wurde lange Zeit angenommen, dass nur wenige Menschen an einer Zwangsstörung leiden. Heute ist davon auszugehen, dass etwa 1 bis 2 % der Bevölkerung betroffen sind. Einzelne Zwangssymptome können bei ungefähr 8 % der Normalbevölkerung festgestellt werden. Die Krankheit beginnt häufig in einem Alter von 20 bis 25 Jahren, aber auch ein späterer Beginn oder der Beginn in der Kindheit sind möglich. Männer erkranken häufiger als Frauen. Zwangserscheinungen treten oft auch im Zusammenhang mit depressiven Störungen, Ängsten, Alkoholmissbrauch und Essstörungen auf.

Symptome

Zwangsstörungen zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: Bestimmte Gedankeninhalte oder Handlungen wiederholen sich immer auf die gleiche Weise, sie drängen sich der Person auf, obwohl sie als sinnlos erlebt werden. Sie können nicht vermieden oder unterdrückt werden. Bei dem Versuch, sich den Gedanken oder Handlungen zu widersetzen, tritt bei dem Zwangskranken intensive innere Spannung und Angst auf.

Formen

Es lassen sich drei Arten von Zwangserscheinungen unterscheiden, nämlich Zwangsgedanken, Zwangsimpulse und Zwangshandlungen. Bei etwa zwei Drittel der Patienten treten sowohl Zwangsgedanken als auch Zwangshandlungen auf.

1. Zwangsgedanken
Hierunter ist das zwanghafte Auftreten von Gedanken oder Vorstellungen zu verstehen, häufig als Gegenimpuls zu einer Situation, z. B. das zwanghafte Aufdrängen gotteslästerlicher Worte in der Kirche oder der Zwang, bei besonders feierlichen Anlässen aufspringen und ordinäre Beschimpfungen von sich geben zu wollen. Auch können Zwangsbefürchtungen, beispielsweise um die Gesundheit von Angehörigen, auftreten. Zwangsgedanken werden als unsinnig empfunden, und der Patient versucht, meist vergeblich, sie zu unterdrücken. Schließlich fühlt der Betroffene sich den Zwangsgedanken hilflos ausgeliefert. Typische Inhalte von Zwangsgedanken sind die Furcht, sich beim Kontakt mit Objekten oder anderen Menschen zu beschmutzen, dauernde und unlösbare Zweifel, bestimmte Dinge getan oder unterlassen zu haben (so z. B. die Frage, ob man das Autolicht angelassen hat) oder der zwanghafte Gedanke, die eigene Gesundheit könnte gefährdet sein. Bei vielen Patienten treten verschiedene Zwangsgedanken auf.

2. Zwangsimpulse
Hiermit sind sich zwanghaft aufdrängende, unwillkürliche Handlungsimpulse gemeint. Die Patienten leben in der ständigen Angst, diese Handlung tatsächlich auch auszuführen, was aber meist nicht geschieht. Die Angst vor der Ausführung ist besonders groß bei aggressiven Zwangsimpulsen, wie z. B. dem Impuls, das eigene geliebte Kind zu verletzen oder zu töten. Zwangsimpulse können auch sexueller Natur sein, wie der Impuls zu unkontrollierten sexuellen Handlungen oder gegen sich selbst gerichtete Aggression zum Inhalt haben, wie z. B. der Impuls, von einer Brücke oder einem Hochhaus zu springen.

3. Zwangshandlungen
Hierbei handelt es sich um Handlungen, die zwanghaft gegen oder ohne Willen ausgeführt werden. Sie werden meist aufgrund von Zwangsimpulsen oder -befürchtungen vorgenommen. Versucht der Patient, diese Handlungen zu unterlassen, tritt intensive innere Anspannung und Angst auf. Obwohl er sie als sinnlos empfindet, fühlt sich der Betroffene gezwungen, die Handlungen immer wieder und immer auf die gleiche Weise zu wiederholen. Am häufigsten treten Kontrollzwänge auf. So kommen bei dem Betroffenen z. B. nach dem Abschließen der Haustür Zweifel auf, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist. Dies muss er dann bis zu zwanzig oder dreißig Mal kontrollieren, obwohl der Patient weiß, dass die Tür verschlossen ist. Doch nur durch die Ausführung der Kontrollhandlung kann die bestehende innere Spannung abgebaut werden, was meist allerdings nur kurze Zeit vorhält. Verschiedene Zwangshandlungen können sich zu einem Zwangsritual zusammenfügen, das in bestimmter Form und Häufigkeit durchgeführt werden muss. Weitere typische Beispiele für Zwangshandlungen sind der Waschzwang, das zwanghafte Nachfragen und der Zählzwang. Bei knapp 50 % der Patienten treten verschiedene Handlungen parallel auf.

Verlauf

Zwangsstörungen verlaufen meist chronisch, wobei die Intensität der Symptomatik allerdings schwanken kann. Sie neigen dazu, sich auszubreiten und beeinträchtigen dann immer größere Teile des Alltags, allein schon deshalb, weil Zwangshandlungen und -rituale so viel Zeit in Anspruch nehmen können, dass andere Aktivitäten zu kurz kommen. Sozialer Rückzug und Isolation sind häufige Folgen der Zwangsstörung, es können aber auch körperliche Schädigungen auftreten. So werden z. B. beim Waschzwang die Hände aus Angst vor Verschmutzung manchmal so oft gewaschen, dass sich Ekzeme bilden. Die Zwangssymptomatik kann so ausgeprägt sein, dass dem Patienten der Selbstmord als der einzige Ausweg erscheint.

Ursachen

Es ist davon auszugehen, dass Zwangsstörungen durch ein multifaktorielles Zusammenwirken von organischen und psychischen Faktoren verursacht werden.

Psychoanalytische Erklärungsmodelle
Es wird angenommen, dass bei Zwangskranken eine Fixierung auf die anale Phase vorliegt. Mit analer Phase wird eine von Freud beschriebene Entwicklungsstufe des Kindes (ca. im 2. oder 3. Lebensjahr) bezeichnet. In dieser Zeit erlangt das Kind die Fähigkeit zur willkürlichen Beherrschung des Schließmuskels. Es erlebt die Ausscheidung als lustvoll. In diese Phase fällt auch die Sauberkeitserziehung; dabei muss das Kind lernen, wie es Befriedigung aufschieben und Kontrolle über triebhafte Bedürfnisse gewinnen kann. Erfährt das Kind auf dieser Stufe nicht genug Befriedigung, z. B. aufgrund einer sehr strengen Sauberkeitserziehung durch die Eltern, kann es zu einer Fixierung auf der analen Entwicklungsstufe kommen. Freud geht davon aus, dass in diesem Fall der Patient, zumindest unbewusst, auch später noch mit den unbefriedigten Bedürfnissen aus der analen Phase (z. B. mit dem Wunsch, mit dem eigenen Kot zu spielen) zu kämpfen hat. Da die Befriedigung dieser Bedürfnisse aber nicht zugelassen wird, treten Abwehrmechanismen auf, um diese Bedürfnisse zu unterdrücken. Auf diese Weise kann sich der eigentliche Wunsch (z. B. nach Beschmutzung) in das genaue Gegenteil, z. B. penible Sauberkeit, umkehren.

Lerntheoretische Aspekte
Die Lerntheorie geht davon aus, dass eine Beziehung zwischen Zwängen und Angst besteht. So wird die Entstehung von Zwangshandlungen als eine Form der Angstbewältigung angesehen. Leidet etwa eine Person an der krankhaften Angst, sich zu beschmutzen oder durch das Anfassen schmutziger Gegenstände eine ansteckende Krankheit zu bekommen, wird sie diese Angst bewältigen, indem sie sich die Hände wäscht. Durch diese Handlung wird die Angst reduziert, und die Handlung wird wiederholt, weil dadurch das erneute Auftreten der Angst vermieden werden kann. Auf diese Weise tritt die Zwangshandlung an die Stelle der Angst.

Neurobiologische Aspekte
Bei Hirnfunktionsuntersuchungen konnte dokumentiert werden, dass Zwangsstörungen im Zusammenhang mit Störungen in der Funktion bestimmter Hirnregionen (Basalganglien, limbisches System und Frontalhirn) stehen. Im Zusammenwirken dieser Hirnstrukturen spielt der Botenstoff Serotonin, der an der Impulskontrolle beteiligt ist, eine wichtige Rolle. Es konnte gezeigt werden, dass bei Zwangspatienten, die Medikamente zur Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin erhielten, eine Besserung eintrat. Von ähnlichen Erfolgen wurde auch bei Patienten berichtet, bei denen die Verbindung zwischen zwei der beteiligten Hirnregionen (Basalganglien und Frontalhirn) chirurgisch unterbrochen wurde. Diese Behandlungsmethode wird allerdings nur noch eingesetzt, wenn andere Methoden erfolglos bleiben. Die Befunde sprechen dafür, dass es eine biologisch bedingte Disposition für Zwangsstörungen gibt. Diese Annahme wird auch von genetischen Untersuchungen unterstützt. Diese zeigen, dass mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad einer Person zu einem Zwangspatienten, die Wahrscheinlichkeit, ebenfalls an einer Zwangsstörung zu erkranken, steigt. Allerdings können neurobiologische Theorien allein nicht das Auftreten von Zwangsstörungen erklären. So tritt beispielsweise bei 20 bis 40% der Patienten, die mit dem oben erwähnten Medikament behandelt werden, keine Besserung ein, was dafür spricht, dass noch andere Faktoren an der Entstehung von Zwangserkrankungen beteiligt sind.

Therapie

Durch eine Kombination von medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden konnte in den letzten Jahren die Prognose für Zwangsstörungen erheblich verbessert werden. Wenn es auch selten zu einer vollständigen Heilung kommt, so kann doch meist eine deutliche Verminderung des Leidensdrucks und eine verbesserte Kontrolle und Bewältigung der Symptomatik erreicht werden.

Pharmakologische Therapie
Bei der medikamentösen Behandlung von Zwangsstörungen werden Medikamente eingesetzt, die die am Anfang erwähnten gestörten Hirnfunktionen positiv beeinflussen. Hierzu zählen Präparate, die die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen, aber auch Medikamente, die üblicherweise zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden und ebenfalls auf den Serotoninhaushalt einwirken. Erst nach einem Zeitraum von etwa zehn Wochen kann beurteilt werden, ob die Behandlung anschlägt. Die Behandlung wird dann als erfolgreich angesehen, wenn der Patient sich subjektiv fähig fühlt, die Symptome zu kontrollieren.

Psychotherapeutische Verfahren
In der Verhaltenstherapie werden zunächst die Zwangsgedanken und -handlungen und die Situationen, in denen sie auftreten, analysiert. Der Patient wird dann angeleitet, sich den angstauslösenden Situationen bewusst auszusetzen, dabei aber Zwangshandlungen zu unterdrücken. Es wird davon ausgegangen, dass der Patient so die Erfahrung macht, dass die befürchteten Folgen ausbleiben, dass z. B. das Anfassen schmutziger Gegenstände nicht zu einer Erkrankung führt und somit auch die den Zwangshandlungen zugrunde liegende Angst verschwindet. Bei dieser Konfrontationsmethode wird stufenweise vorgegangen, d.h. es wird mit der am wenigsten belastenden Situation begonnen und dann langsam bis zur problematischsten Situation fortgefahren.

Häufig werden auch Entspannungsverfahren, wie Autogenes Training, mit dieser Methode kombiniert. Auf der kognitiven Ebene, d.h. Denkvorgänge und Beurteilungen betreffend, sollen die Patienten lernen, ihre Zwangssymptome als solche zu identifizieren. Dadurch soll es dem Patienten ermöglicht werden, sich von seinen Befürchtungen zu distanzieren und Widerstand gegen den Zwang zu leisten. Dabei kann eine Technik hilfreich sein, die sich "Gedanken-Stopp" nennt. Hier soll der Patient sich in dem Moment, in dem seine Befürchtungen auftreten, das Wort "Stopp" denken oder vorsprechen, um so den störenden Gedanken zu unterdrücken. Um der für Zwangsstörungen typischen Isolation und dem sozialen Rückzug entgegenzuwirken, sollte bei der Therapie die nächste Umgebung, z. B. die Familie, mit einbezogen werden.