Benzodiazepinabhängigkeit, Teil 4

0

Benzodiazepinabhängigkeit, Tablettensucht, Benzodiazepine

Seite 4

  Benzodiazepinsucht: Warum gibt es oft keinen Ausweg?

In den vorherigen Kapiteln wurde bereits ausgeführt, dass andauernder Missbrauch von Beruhigungsmitteln und Schlafmitteln vom Benzodiazepintyp aber auch von Barbituraten und anderen Medikamenten zu psychischer und physischer Abhängigkeit führt. Natürlich weiß der Betroffene oft schon in der Anfangsphase seiner Abhängigkeit, dass sein Medikamentenkonsum nicht normal ist. Er nimmt seine Medikamente ein, wenn er sich unbeobachtet fühlt, er trägt sie ständig mit sich, um bei Bedarf auf den Suchtstoff zurückgreifen zu können. Sein Leben zentriert sich zunehmend um die Beschaffung der Medikamente. In der Regel versuchen Betroffene auch, einen Weg aus der Abhängigkeit zu finden oder wenigstens weniger Medikamente einzunehmen. Sie schaffen es auch manchmal, weniger zu nehmen, allerdings nur bis zur nächsten angstbesetzten Situation.

Dafür gibt es mehrere Ursachen: Durch den anhaltenden Suchtmittelkonsum kommt es zu einer Anpassung des Körpers (Soma, Physis) und der Seele (Psyche) an das Suchtmittel. Der Betroffene verträgt dann mehr Medikamente (Toleranzsteigerung). Wird in dieser Phase auf das Suchtmittel verzichtet, können unangenehme Begleiterscheinungen (Entzugserscheinungen, Entzugssymptome, Entzugssyndrome) auftreten. Der Betroffene versucht, diese Entzugserscheinungen mit seinem Suchtmittel "zu bekämpfen". Ein Suchtmittelabhängiger ist ohne sein Suchtmittel kaum noch zu positiven Empfindungen fähig. Er ist ängstlich, gehemmt, voller Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle und fühlt sich unfähig, die täglichen Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Wenn er erneut auf sein Suchtmittel zurückgreift, vermindern sich diese Insuffizienzgefühle und verschwinden nach einer bestimmten Suchtmittelmenge ganz. Er fühlt sich den Aufgaben des Lebens wieder gewachsen. Aus Antriebslosigkeit wird Tatendrang, aus Höchstspannung wird Entspannung und aus Unsicherheit "Selbstsicherheit". Medikamente werden zum "Lebensmotor", zu einer "lebenserhaltenden Kraft" und machen ein Leben erst möglich.

Durch die Einnahme des Suchtmittels kommt es zu Veränderungen neuronaler und/oder biochemischer Prozesse im Zentralnervensystem (Gehirn). Diese Veränderungen sind vor allem im mesolimbischen System lokalisiert, wo u. a. die Emotionen verarbeitet werden. Benzodiazepine wirken an spezifischen Benzodiazepinhaftstellen, die sich im Gehirn, Rückenmark und in peripheren Organen befinden. Über diese Rezeptoren wird an den Schaltstellen (Synapsen) der Nervenzellen u. a. die Aktivität der Neurotransmitter Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) und Dopamin aber auch der Endorphine verändert. Hierdurch werden auch nachgeschaltete Überträgerstoffe, wie z.B. Noradrenalin, Acetylcholin und Serotonin beeinflusst, woraus sich die verschiedenen pharmakologischen Wirkungen der Benzodiazepine ergeben.

Als Folge eines anhaltenden Überangebotes von Suchtstoffen lässt die Empfindlichkeit der Rezeptoren im Gehirn jedoch allmählich nach. Um den gewünschten Reiz auszulösen, sind mehr GABA, mehr Dopamin oder mehr Endorphine notwendig. Die Folgen sind ein ansteigender Suchtmittelkonsum und die Entwicklung einer Unempfindlichkeit z. B. für Reize, die im Normalfall das Gefühl der Zufriedenheit auslösen. Chronischer Alkoholmissbrauch kann z. B. den Spiegel der körpereigenen Morphine (Endorphine) um bis zu 50 % senken.

Nach den bisherigen Erkenntnissen sind bei der Suchtentstehung die nachfolgend aufgeführte Neurotransmitter und deren spezifische Wirkungen von Bedeutung:

  • Dopamin: Motivation, Lernen, Verstärkung und Belohnung,
  • GABA: Beruhigung, Müdigkeit und Schlaf und Senkung des Muskeltonus,
  • Endorphine: Euphorisierung, Schmerzunempfindlichkeit.

Es wird angenommen, dass Benzodiazepine und andere Suchtstoffe nachhaltig in das sogenannte "Belohnungssystem" des menschlichen Organismus eingreifen. Drogen (Alkohol, Medikamente, Nikotin, Opiate, Benzodiazepine. . .), die dem Körper zugeführt werden, hemmen zentrale Rezeptoren der Nervenzellen im Gehirn, die zum so genannten GABA-System (Gamma-Amino-Buttersäure) gehören. Durch deren Blockade wird das für Belohnungsmechanismen wichtige Dopaminsystem aktiviert. Es kommt zu einer erhöhten Ausschüttung von Dopamin und je nach der Art des Suchtmittels zu unterschiedlichen (erwünschten) positiven Gefühlen, so dass eine künstliche Zufriedenheit erzeugt wird. Die Verknüpfung zwischen dem Reiz (Droge) und der Reaktion (ausgelöste Emotion) prägt sich dauerhaft in das Gedächtnis ein. Durch die erzeugten positiven Gefühle wird zudem der Reiz zur Wiederholung verinnerlicht. Eine Abhängigkeitserkrankung ist demnach (auch) als ein Lernprozess zu betrachten.

Unter dem Einfluss GABAerger Neurone kommt es zu dämpfenden Effekten wie z. B. Beruhigung, Müdigkeit und Schlaf und zu einer Senkung des Muskeltonus. Benzodiazepine und Sedativa verstärken die Bindung und Wirkung von GABA (Benzodiazepine erhöhen die Öffnungsfrequenz einzelner Chloridkanäle, während Sedativa deren durchschnittliche Öffnungszeit verlängern).

Nach Gray und Rawlins (1986) wird bei Koppelung von Wahrnehmung und Emotionen im Hippocampus (zentrale Struktur des limbischen Systems) für jede erlebte Situation (Realität) eine erwartete Wirklichkeit (Modellrealität) generiert, d. h. es wird parallel zu der Wahrnehmung der jeweiligen Situation eine interne Modellsituation erzeugt. Mit dieser Modellsituation werden nun die einlaufenden Wahrnehmungen, d. h. die Daten der Sinnesorgane verglichen. Die Aufgabe dieses Komperator- oder Vergleichssystems besteht nun darin, bei einer starken Abweichung von erwarteter und tatsächlicher Wirklichkeit Alarm auszulösen. Dies erfolgt z. B. durch die Übermittlung eines angstauslösenden Signals an das limbische System. Durch die Wirkung angstlösender Medikamente wie der Benzodiazepine wird die Schwelle für die kritische Abweichung im Vergleichssystem erhöht, d. h. Alarmsignale werden erst bei stärkeren Sinneseindrücken ausgelöst. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit von kontextabhängigen Angstimpulsen vermindert und der beruhigende, abschirmende Effekt dieser Medikamente verständlich.

Beim Entzug von Benzodiazepinen können wieder mehr Sinneseindrücke unzensiert zum limbischen System gelangen. Es kommt zu der häufig beobachtbaren gesteigerten Wahrnehmung mit erhöhter Licht- und Geräuschempfindlichkeit, die als unmittelbare Folge einer Schwächung der zensurierenden Eigenschaften des Vergleichssystems im Hippocampus entstehen. Auch Cannabinoidrezeptoren nach sind vorwiegend im Hippocampus und limbischen System konzentriert. Durch die Zufuhr von Cannabinoiden wird ganz ähnlich wie beim Benzodiazepinentzug, eine Zensurschwäche gegenüber Sinneseindrücken bewirkt. Diese Schwächung kann bis zu einem Totalausfall des Vergleichssystems gehen. Die durch einen Haschischkonsum bewirkten Halluzinationen sind demnach keine Trugbilder, sondern hyperreale, unzensierte, für den normalen Menschen nicht wahrnehmbare Bilder der Realität.